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Eine knappe Theorie der Zeit

 

 

 

Eine knappe Theorie der Zeit

 

 

 

Das Gesetz der Zeitdilatation besagt, daß Zeit dehnbar ist...

...und nicht immer und überall gleich schnell abläuft

 

 

Abgesehen von den physikalischen Grundlagen von Zeit ist eine persönliche Zeit durch die Gleichzeitigkeit von Milliarden quasi gleichrangiger und medial gleichrangig kolportierter Ereignisse sowohl

a.  nicht (mehr) erfahrbar  

b. (als auch/und auch gleichzeitig) erfahrbar

c. zufällig erfahrbar

 

a. Persönliche Zeit ist nicht (mehr) erfahrbar, weil Milliarden von Ereignissen in keinem Bezug zum Ursprung der (Medien-) Kolportage stehen, weil persönliche Zeit keine Koordinaten hat, da sich losgelöste Informationsberichte ohne Emotion verbreiten. Das bedingt eine medialisierte Zeitperson, die sich in der Ereignis-überfülle auflöst. Die alte Verdauungs- und Fortpflanzungswelt scheint damit beendet (Skispringersyndrom) und man bevorzugt längst die gecoverte Version. Eine Persona tritt nicht mehr in der Zeit auf. Atomisierte, vagabundierende Zeitteile sind die Symptome einer zu noch beschreibenden Epilepsie in Zeitlupe.

[SMEP / slow-motion-epilepsy; siehe Zappeln > Tableau "Discursus"]  

 

b. Persönliche Zeit ist erfahrbar, weil die sprachliche Erzählung von /der Bericht über Zeit ein privates Erkennen von Vergehen schafft. Persönliche Konstante heißt immer größtmögliche Emotion, die einem Ereignis zugeordnet wird. Die größtmögliche Emotion fällt aber Zeit aus (Ekstase = hohe Intensität parallel zur allgemeinen Zeit) und das Ereignis wird erst in & durch Erinnerung in eine willentlich konstruierte persönliche Zeit eingelagert, reimplantiert und zur persönlichen Konstante (constant light) verfestigt. Das nennt man Erfahrung ( ! Erinnerung wird mit Vergangenheit verwechselt).    

 

 

Zeit erkennt man aber nicht auschließlich an der Vergänglichkeit, sondern auch an der gewünschten, ausgemalten Zukunft und unter Berufung auf die Erkenntnisse der Quantenmechaniker an der

Spiegelbaren Zeit = Gegenwart.

 

Das Veranstalten der Documenta11 in der masc foundation ist demnach logisch, weil sie stattgefunden hat und daher stattfinden kann und stattfindet. Es ist auch von keinem Anwesenden (oder von kaum jemandem) kolportierbar, wie sie stattgefunden hat und daher kann sie (oder ein Teilaspekt der Großveranstaltung) ohne Schwierigkeiten veranstaltet werden.

 

Ein zweiter, trivialer Aspekt ist die Überfülle nicht überprüfbarer und daher nicht nachvollziehbarer Ereignisse, die uns glauben machen. Wir müssen glauben, daß an der Documenta11 ungefähr 100 KünstlerInnen und mindestens 1000 KuratorInnen / AutorInnen / Beteiligte teilgenommen haben. Wir glauben demnach, daß die Documenta11 im Mai in Wien stattfindet oder / und in Kassel stattgefunden hat. Da die Tätigkeiten von 1000 KuratorInnen und Anderen nicht nachvollzogen werden wollen oder überprüft werden können, gibt es dazu keine brauchbare, weiterentwickelbare Geschichte. Wir sind Glaubende geworden.

Es fällt also leicht, diese Art von Geschichte zu konstruieren, da sie im nächsten Moment in den persönlichen Kleinstzeiten der Überfülle an InformationsträgerInnen und "zappelnden" Verhandlern verloren geht. Die Megalomanie einer Großveranstaltung ist somit auch der Ausdruck unüberprüfbarer Fülle, der Wunsch nach Machtfülle, der ausdruckslose Wunsch nach Unendlichkeit (unendlich = zeitlos = dimensionsschwach).

 

c. Persönliche Zeit ist/war zufällig erfahrbar: durch Post, durch Individuum

 

Die Post war nichts anderes als fleischgewordene Telepathie mit einem Schuß Dörflichkeit.

Die Post als Überbringer von Zeitbotschaften hat nun ausgedient.

Die Zeitdiener, die Postler, werden durch digitale Übermittlung, Auslagerung und Automatisierung eliminiert.

Ihr Vorteil war die Zuverlässigkeit, das Grüßen und die Wertschätzung der Adressunsicherheit.

 

 

Die Erfindung der Post beweist, daß Zeit verschickt, überlagert, vermehrt und schließlich individualisiert werden konnte.

Sie konnte individuell verpackt und auch Jahrzehnte später individuell zugestellt werden. Post kam zufällig, aber sie kam.

 

 

 

Moderne Brief- und Paketlogistik ist die Mutter des Brief- und Paketverlustes, die eine schmerzvolle Form von verlorener Zeit darstellt. Sie kommt also nicht ! Oder sie kommt zurück.

Wenn die Zeiteinheiten verloren gehen, erübrigt sich jegliche Übermittlung, jeglicher Aufwand.

 

Direkte Kommunikation durch Telepathie muß die Folge sein.

Es muß niemand mehr an das Documenta-Büro oder die Documenta-Kuratoren schreiben, da die Documenta in einem telepathischen Forum errichten werden kann. Es werden keine Brief-und Paketeinheiten verschickt und angenommen oder nicht angenommen, da sie nicht ankommen, daher wird keine bürokratische Einheit aufgebaut und keine Zeit mehr verloren. Dieses Modell existiert in der Gleichzeitigkeit.

 

Telepathie ["geistige Verständigung ohne nachweisbaren Kontakt", wie zB Gedankenlesen, Gedankenübertragung] als einfache Kommunikationstechnik ist ohne technische Hilfsmittel einsetzbar. Mittels Déjà-vu gelingt die Vorstellung eines telepathischen Raumes, der ein Treffen mehrerer Personen gleichzeitigt. Ein zu definierendes Thema wird durch chorische Konzentration oder Einzelleistungen geprägt. So kommt es zu einer neuen Zeitnutzung.





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